Monday, November 2, 2020

www.vorwaerts.de, Armenien: Warum Deutschland eine Mitschuld am Völkermord trägt

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Erinnerung an Völkermord
Armenien: Warum Deutschland eine Mitschuld am Völkermord trägt
Paul Starzmann • 21. November 2016

Am Völkermord an den Armeniern waren auch Deutsche beteiligt. Ein neues Buch liefert jetzt einen Augenzeugenbericht über die grausamen Verbrechen vor rund 100 Jahren. Sogar die Deutsche Bank spielte dabei eine wichtige Rolle.


„Es sind wüste Tage, voll Bitterkeit über diese trostlose Türkei.“ Diese Worte sind über einhundert Jahre alt und wirken dennoch gerade in diesen Tagen aktueller denn je – sind die Menschenrechte in der Türkei doch gerade in höchster Gefahr. Der eingangs zitierte Satz jedoch wurde bereits im Jahr 1915 aufgeschrieben – von der Schweizerin Clara Sigrist-Hilty, die damals im Osmanischen Reich lebte und Zeugin eines der größten Verbrechen der jüngeren Geschichte wurde: dem Völkermord an den Armeniern.

„Hier sterben täglich ca. 130 Menschen“

In dem Buch „Man treibt sie in die Wüste“ hat die Wissenschaftlerin Dora Sakayan jetzt die Tagebücher des Ehepaars Clara und Fritz Sigrist-Hilty akribisch aufgearbeitet. Das Paar aus der Schweiz lebte für einige Jahre in Fevzipaşa, in der osttürkischen Provinz Gaziantep. Fritz arbeitete dort als Ingenieur für die Bagdadbahn, seine Frau Clara war ihm kurz nach der Trauung ins Ausland gefolgt. Von ihrem Haus aus mussten die Eheleute dann im Jahr 1915 mit ansehen, wie tausende Armenier – Frauen, Kinder und Männer – von türkischen Soldaten zusammengetrieben wurden. Am 4. Oktober 1915 notiert Clara: „Hier sterben täglich ca. 130 Menschen“.

„Claras Tagebuch ist ein unschätzbarer Beitrag zur Geschichte des Völkermords an den Armeniern“, betont die Autorin Dora Sakayan, emeritierte Professorin der renommierten McGill-Universität in Kanada. Der Grund: Die Urheberin der Tagebücher sei in der Türkei eine „totale Außenseiterin“ gewesen und daher eine Art neutrale Beobachterin.

In ihren Aufzeichnungen erzählt Clara Sigrist-Hilty vorwiegend vom alltäglichen Leben in der Fremde. Eher nebenbei wird sie zur Augenzeugin eines riesigen Verbrechens: Von ihrer Terrasse aus kann Clara die Deportationen tausender Menschen beobachten. Auf Ausflügen kommen ihr halb verhungerte Waisenkinder entgegen, sie findet unzählige Leichen am Wegesrand. Nachts hört Clara die Schüsse der türkischen Hinrichtungskommandos – Angesichts des Elends schreibt sie dazu: „Wie gut für die, die so sterben dürfen.“

Deutsche Bank: Hauptfinanzier der Badgadbahn

Dass auch Deutsche beteiligt waren an den Verbrechen der osmanischen Soldaten, betont Wolfgang Gust im Vorwort des Buches. Die Bagdadbahn war damals „Deutschlands größte Auslandsinvestition“, schreibt er. „Für die Armenier, besonders jene aus dem Westen des Osmanischen Reichs, wurde sie im Ersten Weltkrieg der schnellste Weg in den Tod.“ „Hauptfinanzier des Prestigeprojekts“ sei die Deutsche Bank gewesen. Bis heute mache das Unternehmen seine Archive zu dem Thema jedoch nur ausgewählten Personen zugänglich.

Mit deutschen Tätern hatte auch das Ehepaar Sigrist-Hilty zu tun, etwa mit Sylvester Böttrich, Oberstleutnant bei der deutschen Militärmission in der Türkei und „verantwortlicher deutscher Offizier für das osmanische Eisenbahnwesen.“ Am 16. Oktober 1915 unterschrieb dieser „einen Befehl, der die Entlassung und darauf folgende Deportation von Tausenden der beim Bau der Bagdadbahn eingesetzten Armenier genehmigte.“ Gerade noch selbst am Bau der Eisenbahn beteiligt, fanden sich viele armenische Arbeiter kurz darauf in vollgestopften Viehwagons wieder – auf direktem Weg in den Tod.

Türkische Regierung will die Wahrheit unterdrücken

Bis heute verfolge die türkische Regierung die Absicht, Jugendliche in der Türkei sowie türkeistämmige Schüler in Deutschland „von der Wahrheit fernzuhalten“, schreibt Wolfgang Gust. Im Mai 2016 stellte die Armenien-Resolution des Bundestags schließlich die deutsche Mitschuld am Völkermord offiziell fest. Damit hätten die deutschen Parlamentarier ein Signal an die Bundesländer und deutschen Universitäten gegeben, „das Tabu des Verschweigens nicht länger zu dulden“, so Gust. Dafür kann Dora Sakayans neues Buch nun einen wichtigen Beitrag leisten.

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