Monday, March 11, 2019

Dostojewski über deutsche Mentalität

Dostojewski der Spieler:

Aber ich bitte Sie«, antwortete ich ihm, »es ist ja noch nicht ausgemacht, was garstiger ist: das
russische wüste Wesen oder die deutsche Art, durch ehrliche Arbeit Geld zusammenzu-bringen.«
»Was für ein sinnloser Gedanke!« rief der General.
»Ein echt russischer Gedanke!« rief der Franzose.
Ich lachte; ich hatte die größte Lust, sie beide ein bißchen zu reizen.
»Ich meinerseits«, sagte ich, »möchte lieber mein ganzes Leben lang mit den Kirgisen als Nomade
umherziehen und mein Zelt mit mir führen, als das deutsche Idol anbeten.«
»Was für ein Idol?« fragte der General, der schon anfing, ernstlich böse zu werden.
»Die deutsche Art, Reichtümer zusammenzuscharren. Ich bin noch nicht lange hier; aber was ich
bemerkt und beobachtet habe, erregt mein tatarisches Blut. Bei Gott, solche Tugenden wünsche ich
mir nicht! Ich bin hier gestern zehn Werst weil umhergegangen: es ist ganz ebenso wie in den
moralischen deutschen Bilderbüchern. Überall, in jedem Hause, gibt es hier einen Hausvater, der
furchtbar tugendhaft und außerordentlich redlich ist, schon so redlich, daß man sich fürchten muß, ihm
näherzutreten. Ich kann solche redlichen Leute nicht ausstehen, denen näherzutreten man sich fürchten
muß. Jeder derartige Hausvater hat eine Familie, und abends lesen alle einander laut belehrende
Bücher vor. Über dem Häuschen rauschen Ulmen und Kastanien. Sonnenuntergang, auf dem Dach ein
Storch, alles höchst rührend und poetisch... Werden Sie nur nicht böse, General; lassen Sie mich nur
von solchen rührsamen Dingen reden! Ich erinnere mich aus meiner eigenen Kindheit, wie mein
seliger Vater ebenfalls unter den Lindenbäumen im Vorgärtchen abends mir und meiner Mutter solche
Büchelchen vorlas; ich habe daher über dergleichen selbst ein richtiges Urteil. Nun also, so lebt hier
jede solche Familie beim Hausvater in vollständiger Knechtschaft und Untertänigkeit. Alle arbeiten
wie die Ochsen, und alle scharren Geld zusammen wie die Juden. Gesetzt, ein Vater hat schon eine
bestimmte Menge Gulden zusammengebracht und beabsichtigt, dem ältesten Sohn sein Geschäft oder
sein Stückchen Land zu übergeben; dann erhält aus diesem Grunde die Tochter keine Mitgift und muß
eine alte Jungfer werden, und den jüngeren Sohn verkaufen sie als Knecht oder als Soldaten und
schlagen den Erlös zum Familienkapital. Wirklich, so geht das hier zu; ich habe mich erkundigt. All
das geschieht nur aus Redlichkeit, aus übertriebener Redlichkeit, dergestalt, daß auch der jüngere,
verkaufte Sohn glaubt, man habe ihn nur aus Redlichkeit verkauft; und das ist doch ein idealer
Zustand, wenn das Opfer selbst sich darüber freut, daß es zum Schlachten geführt wird. Und nun

weiter. Auch der ältere Sohn hat es nicht leicht: da hat er so eine Amalia, mit der er herzenseins ist;
aber heiraten kann er sie nicht, weil noch nicht genug Gulden zusammengescharrt sind. Nun warten sie
gleichfalls treu und sittsam und gehen mit einem Lächeln zur Schlachtbank. Amalias Wangen fallen
schon ein, und sie trocknet zusammen. Endlich, nach etwa zwanzig Jahren, hat das Vermögen die
gewünschte Höhe erreicht; die richtige Anzahl von Gulden ist auf redliche, tugendhafte Weise
erworben. Der Vater segnet seinen vierzigjährigen ältesten Sohn und die fünfunddreißigjährige
Amalia mit der eingetrockneten Brust und der roten Nase. Dabei weint er, hält eine moralische
Ansprache und stirbt. Der Älteste verwandelt sich nun selbst in einen tugendhaften Vater, und es
beginnt wieder dieselbe Geschichte von vorn. Nach etwa fünfzig oder siebzig Jahren besitzt der
Enkel des ersten Vaters wirklich schon ein ansehnliches Kapital und übergibt es seinem Sohn, dieser
dem seinigen, der wieder dem seinigen, und nach fünf oder sechs Generationen ist das Resultat so ein
Baron Rothschild oder Hoppe & Co. oder etwas Ähnliches. Nun, ist das nicht ein erhebendes
Schauspiel: hundert-oder zweihundertjährige sich vererbende Arbeit, Geduld, Klugheit, Redlichkeit,
Charakterfestigkeit, Ausdauer, Sparsamkeit, der Storch auf dem Dach! Was wollen Sie noch weiter?
Etwas Höheres als dies gibt es ja nicht, und in dieser Überzeugung sitzen die Deutschen selbst über
die ganze Welt zu Gericht, und wer da schuldig befunden wird, das heißt ihnen irgendwie unähnlich
ist, über den fällen sie sofort ein Verdammungsurteil. Also, wovon wir sprachen: ich ziehe es vor, auf
russische Manier ein ausschweifendes Leben zu führen oder meine Vermögensverhältnisse beim
Roulett aufzubessern; ich will nicht nach fünf Generationen Hoppe & Co. sein. Geld brauche ich für
mich selbst; ich bin mir Selbstzweck und nicht nur ein zur Kapitalbeschaffung notwendiger Apparat.
Ich weiß, daß ich viel törichtes Zeug zusammengeredet habe; aber wenn auch, das ist nun einmal

meine Überzeugung.

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